Wir müssen unsere Gesundheit neu denken, findet Ilaria Capua. Die Virologin erklärt uns die Probleme der WHO, warum sie von der Schweiz enttäuscht ist – und wie wir uns auf die nächste Pandemie vorbereiten.
Sie sah Corona kommen. Schon als China in Wuhan zusätzliche Krankenhäuser baute und die Studenten trotzdem zum Neujahrsfest nach Hause fuhren, warnte Ilaria Capua vor den Gefahren. Nun, anderthalb Jahre später, scheint dank der Vakzine endlich ein Ende der Pandemie in Sicht. Aber: «Was wir wirklich nicht tun sollten, ist, wieder dahin zurückkehren, wo wir hergekommen sind», sagt die Vordenkerin, die vor allem in ihrem Heimatland Italien als Corona-Expertin im TV bekannt wurde, beim Gespräch in einem Zürcher Hotel. Dahin kam sie auf Einladung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung (SIAF).
SonntagsBlick: Professor Capua, wir alle sehnen uns nach Normalität – und Sie sagen: Das dürfen wir nicht?
Ilaria Capua: Nach Corona wird es wie nach einem Krieg sein, das gibt uns eine neue Richtung. Schauen Sie nur, was wir vorher alles falsch gemacht haben! Wir müssen mutig genug sein, ein paar Dinge grundlegend zu ändern.
Woran denken Sie konkret?
An drei Dinge: Erstens müssen wir anerkennen, dass sich Gesundheit nicht nur um Covid dreht. Wir hatten schon vorher ein Problem mit antibiotikaresistenten Erregern. Das hat sich in der Pandemie verschlimmert, weil wir für die Kranken eine ganze Menge Antibiotika einsetzen mussten. Daran müssen wir jetzt etwas ändern, sonst fliegt es uns in spätestens zehn Jahren um die Ohren. Zweitens müssen wir neue Impfstoffe entwickeln – solche, die ohne Kühlkette auskommen. Sonst haben wir keine Chance, Impfstoffe wirklich überallhin zu bringen, wo wir sie benötigen, um Krankheiten auszurotten. Und drittens müssen wir Daten besser verarbeiten, auswerten und zur Verfügung stellen – besonders, was Unterschiede zwischen Männern und Frauen angeht.
Was haben Geschlechtsunterschiede mit der Pandemie zu tun?
Weil Frauen und Männer verschieden sind und Covid-19 uns das besonders gut gezeigt hat. Frauen haben seltener einen schweren Verlauf, Männer sterben häufiger. Aber mehr Frauen haben in der Krise ihren Job verloren. Frauen halten sich mehr an die Massnahmen. Frauen tragen die grösste Last. Es ist also nicht nur die medizinische Komponente, sondern auch die soziale – weil sich diese Infektionskrankheit so massiv auf unseren Alltag auswirkt. Warum berücksichtigen wir nach Geschlecht aufgeschlüsselte Daten nicht grundsätzlich in der Forschung?
Sie erkannten schon früh die Gefahr von Corona – warum so wenig andere?
Die amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC war sich der Gefahr bewusst. Sie war vor Ort gut vernetzt. Aber das politische Umfeld in den USA erlaubte der CDC nicht, angemessen zu reagieren.
Hat uns Corona deswegen so hart getroffen, obwohl das Virus nicht so tödlich ist wie etwa Ebola?
Nein, das war schlicht unser Demografie-Problem. In Äthiopien liegt der Altersdurchschnitt bei rund 19 Jahren, in Europa und den USA mehr als doppelt so hoch. Alte müssen gesundheitlich gemanagt werden. Nehmen Sie meine Mutter: Sie hatte Lungenkrebs und ein Herzproblem. Da braucht es nur noch einen kleinen Schubs, um den Dominoeffekt auszulösen.
Waren Sie überrascht, wie schlecht vorbereitet Europa war?
Man hat so viele Dinge falsch gemacht. Zuallererst, dass niemand glauben konnte, dass das eine Pandemie ist. Der britische Premierminister Boris Johnson etwa musste erst selbst krank werden, bevor er daran geglaubt hat, dass Corona ein grosses Problem wird.
Andere Länder gingen hingegen früh in den Lockdown …
Es kommt darauf an, was man «früh» nennt. Die WHO hat im Januar den internationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen. Selbst in Italien war der erste richtige Lockdown erst im März. In einem Monat kann ein Virus ganz schön viel reisen. Aber die Staats- und Regierungschefs haben nicht dran geglaubt – und die normalen Leute auch nicht. Alle dachten, sie würden nicht erkranken und wenn doch, werde es schon Medikamente dagegen geben.
Uns hat die Pandemie-Erfahrung gefehlt.
Ja und nein. 2009 hatten wir die Schweinegrippe. Das war quasi die Pandemie, die uns getäuscht hat. Sie hatte das Potenzial, riesige Probleme auszulösen. Und das ist nur nicht passiert, weil einige Komponenten des Schweinegrippen-Virus einem Virus sehr ähnlich waren, das in den 40er-Jahren zirkulierte. Deshalb waren die Alten geschützt, die Pandemie verlief mild.
Nach mehr als 60 Jahren?
Tatsächlich. Dabei wären wir sogar vorbereitet gewesen: Wir hatten Impfstoffe, wir hatten Medikamente. Doch das grösste Pandemie-Paradox ist, dass es wirklich gut ist, wenn es keine gibt. Wir hatten deswegen in den vergangenen Jahrzehnten keine schlimme Pandemie, weil Tausende täglich daran arbeiten, sie zu verhindern.
Wie etwa bei der Vogelgrippe 2006.
Genau, die wurde auch nie pandemisch, weil sie nicht von Mensch zu Mensch übertragbar ist. Aber wir haben vorsichtshalber sehr viel Geld ausgegeben und Impfstoffe entwickelt.
Sie haben damals den Gencode des Virus entschlüsselt und entgegen dem Willen der WHO mit Wissenschaftlern weltweit geteilt. Ihrem Zoff mit der WHO verdanken wir, dass der offene Austausch von Virus-Sequenzen und Daten bei der Corona-Pandemie längst etabliert war. Warum wollte die WHO damals keine Daten teilen?
Weil ihre Strukturen veraltet waren. Sie stammten noch aus der Zeit, als es nur wenige Labore weltweit gab, die mit diesen Viren gearbeitet haben. Aber als die Vögel tot vom Himmel fielen, war für mich klar, dass die Labore – und zwar die veterinärmedizinischen und die humanmedizinischen – ihre Ergebnisse miteinander teilen müssen. Heute, nur 15 Jahre später, haben manche Viren-Datenbanken anderthalb Millionen Sequenzen. Ist das nicht verrückt? Daran sieht man, dass Pandemien zwar unfassbaren Schmerz, Verzweiflung, Tod und Trauer verursachen, dass Menschen sterben und Gesellschaften durchgeschüttelt werden, aber dass sie auch generative Kraft mitbringen. Das sieht ja auch jeder in seinem Alltag. Oder glaubt wirklich noch irgendein Arbeitgeber, dass er seine Mitarbeiter wieder täglich ins Büro zwingen kann?
Hat die WHO Ihrer Ansicht nach angemessen auf die Pandemie reagiert?
Sie hat getan, was sie in einer sehr, sehr schwierigen Situation tun konnte. Da hat auch Politik eine grosse Rolle gespielt, und das ist sicher einer der Gründe, warum die Pandemie schlecht gemanagt wurde.
Ist die WHO von ihrer Organisationsstruktur her überhaupt agil genug, um auf eine Pandemie zu reagieren?
Die WHO und viele andere Organisationen müssen neu gestaltet werden. Ihre Rollen müssten überarbeitet werden. Das haben wir auch bei der EU gesehen. Die arme Ursula von der Leyen musste Impfstoffe beschaffen – das ist überhaupt nicht ihr Job. Normalerweise macht etwa die deutsche Regierung Deals mit den Pharmaunternehmen. Ich habe grossen Respekt dafür, welche Verantwortung sich die Kommissionspräsidentin aufgeladen hat. Eigentlich hatte sie nicht mal die rechtliche Kompetenz dafür. Pardoxerweise sind wir bei Krankheiten von Tieren viel weiter als bei menschlichen Krankheiten: Wenn du deine Schweine gegen die Afrikanische Schweinepest impfen willst, musst du die EU-Kommission fragen – wenn du etwas machst, das Brüssel nicht passt, kannst du dein Fleisch nicht auf dem europäischen Markt verkaufen.